gretel zwischen den wäldern II
reize sind die vorboten von erinnerungen, erinnerungen beleben die erfahrungen, stichworte, bilder, menschen und ihre symbole, wenn auch verformt, sind sie in ihrer gestalt stets erkennbar. später adeln sich dieselben erinnerungen zu phobien des lebens, geben den bau von schützengräben in auftrag, ziehen grenzzäune hoch, lassen stacheln wachsen. wir sammeln brandmale, und bieten diese am leidensmittelmarkt gegen andere erinnerungen an. lasst uns unsere kriegsverletzungen und narben untereinander austauschen. kampferfahrung macht einem zum veteranen, geteiltes leid halbiert. grundsätzlich bin ich verteidigerin, doch wenn meine mauern eingestürzt sind, bleiben angriff oder flucht.
eine erinnerung, ein impuls, eine ereigniskette. alles folgend, folgerichtig und schwerwiegend. die lösung läge dort, wo das loslösen beginnt und die anmut gewinnt. der schwan wird kommen, gewiss.
es war weder die angst vor den wäldern, noch die angst vor den blindschleichen gewesen. die wilden tiere, von denen man mir erzählt hatte, habe ich vor bosnien niemals wirklich gesehen. ich hatte von ihrer existenz gehört, davon, dass sie sich tarnen, in wäldern verstecken und aus dem hinterhalt angreifen, wie mein bruder und seine blindschleichen. dennoch jagte uns mutter hinaus, in den wald, um uns das fürchten zu lehren, jedem das ihm eigene fürchten, schlangen gegen spinnen?
ich habe die kieselsteinchen in meinem anderen leben vergessen, auf einer anderen sprache. in den bosnischen wäldern vermischten sich die kieselsteinchen meines bruders mit rostigen blechdosen, glasscherben, minen. es wimmelte von wilden tieren, streunenden hunden und giftigen pflanzen. pazite! es wird eindringlich empfohlen, nicht alles aufzusammeln, was im mondschein glänzt. vorsicht ist allemal besser als nachsicht, das wissen die tiere dieses waldes. als ich das erste mal durch die bosnischen wälder lief, als ich sorglos dem weißen hasen ins immer dichtere gebüsch folgte, muss ich für außenstehende folglich wie ein narr gewirkt haben.
man pflegte mich dann mit großen augen anzusehen, zu fragen, ob ich denn keine angst hätte in den bosnischen urwäldern. zurück in westlicher ordnung, wo die bosnischen wälder weiter weg wirken, als sie es sind, kehrt sich die frage um. wo hast du dein vertrauen verloren, fragt man mich, ohne meine antwort abzuwarten. hätte man darüber nachgedacht, dass wälder niemals frei von wilden tieren und giftigen gewächsen sind, dass wälder sich gleichen, wenn man nur tief in sie hineinwandert, hätte man mich auch nach meinen kriegstrophäen fragen können, oder welchen giftschlangen ich bereits entkommen, welche wölfe ich mit wackersteinen füttern und im brunnen versenken konnte, welche bärenfälle mich wärmten, während das siebte geißlein in der wanduhr verharrte, bis seine mutter zurückkam.
der wald, oder war es ein nationalpark, in welchen der weiße hase mich damals verführt hatte, wurde immer dichter und verwachsener als unter österreichischer ordnung. ich erinnere mich an die wälder und parks meiner kindheit. sie waren immer ordentlich und die kleinen wege wurden gepflegt. transparentweiße oder graue kieselsteinchen, wie sie sonst auch als grabdekorationen verwendet werden. sorgfältig zu knirschenden spazierteppichen aufgeschüttet, gerahmt von bäumchen oder büschchen, liebevoll beschnitten. in zentimetervermessenen, gleichbleibenden abständen parkbänke als erholungsorte installiert, ab und an mit kleinen messingtäfelchen versehen, mit punzierten buchstaben über die spender dieser ruhemöglichkeiten auskunft gebend. das gras, oder besser die gräser zwischen den kieselsteinlabyrinthen wie von barbierenhand gleichmäßig kurz frisiert, hi und da von bukettinseln unterbrochen, die den parks ihre frisch duftende würze verleihen.
bosnische parks versprühen den duft des todes. als konkurrierten sie mit stillgelegten friedhöfen, deren immer seltener werdenden besucher kein interesse für die begrabenen hegen. wild und ursprünglich, kühl und kalt. die mächtigen wurzeln der bäume haben sich nach langem schlaf gereckt, geduldig und willensstark die kruste der liebevoll geordneten miniaturstraßen aufgebrochen, sodass die raren besucher eher wandern als spazieren. füße richtig anheben, vor allem wenn es dunkel ist, oder stolpern! nachts wirken sie bedrohlich. kein rotkäppchen wagt sich alleine hinein.